Presseerklärung

zu den Empfehlungen der „Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin“ für eine Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs

Bonn, den 22. Mai 2024

Die Empfehlungen der regierungsamtlich eingesetzten „Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin“ nimmt in ihrem kürzlich veröffentlichten Abschlussbericht zum Schwangerschaftskonflikt einseitig Partei zugunsten von Schwangeren. Dem Gesetzgeber wird in einem erheblichen Ausmaß ein „Gestaltungsspielraum“ zugebilligt, den „Güterkonflikt“ zu Lasten des ungeborenen Menschen zu lösen und dessen Leben damit der freien Disposition zu überlassen. Mit dem existentiellen Schutzanspruch des Fötus und mit der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht des Gesetzgebers ist diese Positionierung  unvereinbar.

Im Einzelnen schlägt die Kommission ein Drei-Phasen-Modell vor, wonach „die Belange des Embryos/Fetus“ in den ersten Schwangerschaftswochen (wohl bis zur 12. SSW) „hinter den Grundrechten der Schwangeren zurück[-treten]“ sollen, weil hier dem „Lebensrecht des Ungeborenen eher geringeres Gewicht“ zukomme, „das Verlangen der Frau nach einer Beendigung der Schwangerschaft“ dagegen „starken grundrechtlichen Schutz“ genieße. In der „Spätphase“ der Schwangerschaft (ab extrauteriner Lebensfähigkeit) sei es dagegen – grundsätzlich – umgekehrt: Hier gelte Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG mit einer starken Schutzverpflichtung, während die grundrechtlichen Belange der Schwangeren „wegen der kürzer verbleibenden Dauer der Schwangerschaft vergleichsweise geringeres Gewicht haben“ sollen. Abgesehen von Fällen einer rein medizinischen Indikation (Lebensgefahr oder Gefahr einer erheblichen körperlichen oder seelischen Gesundheitsbeeinträchtigung), u.U. aber auch bei embryo-/fetopathischem Befund (hier sei ein eigenständiger Erlaubnistatbestand zu erwägen), soll der Abbruch in dieser Phase als rechtswidrig angesehen werden. Bezüglich der „mittleren Schwangerschaftsphase“ stehe es schließlich im weitreichenden Ermessen des Gesetzgebers, ab wann er den Abbruch noch als rechtmäßig oder schon als rechtswidrig bewerte. Letzterenfalls müsse er jedoch Ausnahmen vorsehen, wiederum für die medizinische sowie zusätzlich für die – insoweit gegenüber der lex lata zeitlich verlängerten – kriminologische Indikation (Sexualstraftat).

Es ist unschwer zu erkennen, dass diese Positionierung – im Sinne eines „anwachsenden Lebensrechts“ je nach embryonalem Entwicklungsstadium sowie einer vollständigen Freistellung der Schwangeren von jedweder Existenzsicherungspflicht innerhalb des ersten und u.U. sogar zweiten Trimenons – der bis heute maßgeblichen Rechtsprechung des BVerfG (E 39, 1 ff. und 88, 203 ff.: „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu“) von Grund auf zuwiderläuft. Deshalb bemüht sich die Kommission angestrengt um den Nachweis, dass der Gesetzgeber an die bundesverfassungsgerichtliche Judikatur nicht nach § 31 Abs. 1 BVerfGG gebunden sei – ersichtlich in der Hoffnung, dass eine künftige dritte Leitentscheidung dem postulierten „Wandel der gesellschaftlichen Anschauungen“ und der angeblich veränderten europa- und völkerrechtlichen Rechtslage auch verfassungsrechtlich Geltung verschaffen werde.  

Für einen vollen vorgeburtlichen Menschenwürde- und Lebensschutz spricht indes nach wie vor, dass sich ein „Etwas“ nicht durch Metamorphose plötzlich zu irgendeinem beliebigen Zeitpunkt als ein „Jemand“ fortentwickeln kann. Wer Mensch und damit Rechtsperson ist, ist es von Anfang an.  Im Lichte der jahrzehntelangen Debatten in Recht, Philosophie und Theologie irritiert die folgenreiche Annahme, dass sich der „geringere Schutzstandard“ aus der existentiellen Abhängigkeit des Fötus in einem basal körperlichen Sinne („leibliche Einheit mit der Schwangeren“) ergebe: Dieser Biologismus soll augenscheinlich verdecken, dass normativ (rechtlich wie ethisch) die besondere Hilfsbedürftigkeit Anderer für gewöhnlich nicht etwa zur Abschwächung der Hilfeleistungspflicht, sondern vielmehr zur verstärkten Fürsorge verpflichtet.

Im Kern führt die pragmatische ad-hoc-These vom „anwachsenden Lebensrecht“ dazu, dass der tragische Schwangerschaftskonflikt einseitig im Sinne des Interesses der Abwehrposition der Schwangeren aufgelöst wird, weil es dann – bis zu welcher willkürlich gesetzten Grenze auch immer – einen personalen Konflikt gar nicht mehr gibt. Insoweit darf dann auch die – eigentlich auf Inklusion gerichtete – Menschenwürdegarantie keine Rolle mehr spielen, was die Kommission unter Verweis auf eine je Entwicklungsstadium unterschiedliche „Würdebegabung“ mit der Folge einer „Entkoppelung von Menschenwürde- und Lebensschutz“ auch behauptet. Der Schutz der Menschenwürdegarantie wird jedoch nicht erst verdient oder sonst durch Gewinnung eines bestimmten Entwicklungsstandes (z.B. durch biologische Selbstständigkeit) erlangt, sondern einem jeden Menschen schlicht aufgrund seiner selbstzweckhaften Existenz zugeschrieben: Wer „Subjekt“ und nicht „Ding“ ist, hat nach Maßgabe des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ein prinzipielles Recht, leben zu dürfen.

Das von der Kommission bemühte  Argument, werde dem Fötus Menschenwürde zugeschrieben, „schiede […] ein Güterausgleich mit den Grundrechtspositionen der Schwangeren aus“, wäre die Lösung des Schwangerschaftskonflikts zu Lasten der Schwangeren vorentschieden – verwechselt die Status- mit der Eingriffsfrage: Nicht jeder Eingriff in das Lebensrecht ist automatisch eine – absolut verbotene – Menschenwürdeverletzung. Gleiches gilt für die staatliche Schutzpflicht gegenüber privaten Angriffen und Einwirkungen. Ansonsten ließe sich etwa die äußerstenfalls erlaubte tödliche Notwehr gegen einen rechtswidrigen Angriff (§ 32 StGB) im Lichte des Art. 1 GG nur noch akzeptieren, wenn dem Angreifer zuvor sein generelles Existenzrecht abgesprochen würde (was selbstredend bislang niemand behauptet).

Eine „Auflösung des Güterkonflikts“ im Wege der „praktischen Konkordanz“ würde es hingegen gebieten, die widerstreitenden Schutzgüter und -interessen jeweils in gleichem Maße mit dem Ziel der Optimierung zu einem Ausgleich zu bringen: Es wäre dann strikt verboten, einem der beiden Schutzpositionen einen generellen Vorrang einzuräumen (z.B. BVerfGE 83, 130, 142; s. auch BVerfGE 41, 29, 51; 77, 240, 253; 81, 278, 292; 97, 391, 401), und müsste vielmehr beiden je nach Gewicht der rechtlichen Betroffenheit (Leben, Persönlichkeitsrecht, Selbstbestimmung) Grenzen gesetzt werden, damit sämtliche Schutzinteressen zu bestmöglicher Wirksamkeit gelangen können (Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 72). Für die in den ersten zwölf Wochen auf der Grundlage des § 218a Abs. 1 StGB abgetriebenen Feten, dann sind die allermeisten, ist der Verlust aber ein totaler, und es nützt ihnen in ihrem basalen Existenzinteresse nichts, wenn der Zugriff auf das Kollektiv der weiter entwickelten Föten (jedenfalls nominell) gewissen Grenzen unterliegen soll. Ein inklusives Verständnis der Menschenwürdeidee zwingt dazu, die praktische Konkordanz auf das je individuelle menschliche Leben zu beziehen: Und für dieses geht es stets um Sein oder Nichtsein, so dass sich ein Schwangerschaftsabbruch nur bei einer festgestellten schwerwiegenden Ausnahmelage, die eine Fortsetzung der Schwangerschaft unzumutbar macht, rechtfertigen lässt.

Dass – so die Behauptung der Kommission – das Europa- und das Völkerrecht mittlerweile eine Entkriminalisierung, gar eine Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs (in der Frühphase) gebiete und deshalb das Verfassungsrecht dieser angeblich neuen internationalen Rechtslage angepasst werden müsse, ist unzutreffend. Nach der Rechtsprechung des EGMR muss vielmehr das Recht der Mutter auf Achtung ihres Privatlebens (Art. 8 EMRK) mit den konkurrierenden Rechten und Freiheiten der Ungeborenen abgewogen werden. Zwingend erlaubt werden muss danach eine Abtreibung im Wesentlichen nur dann, wenn bei Fortsetzung der Schwangerschaft eine erhebliche Gesundheits- oder gar Lebensgefahr bestünde. Die Gewährleistungen der Europäischen Grundrechtecharta sind mit Rücksicht auf Art. 52 Abs. 3 S. 1 EGrCh in gleicher Weise zu verstehen.

Aus keinem für Deutschland geltenden völkerrechtlichen Vertrag kann die Verpflichtung entnommen werden, ein „Recht auf Abtreibung“ anerkennen zu müssen. Weder der UN-Zivilpakt noch der UN-Sozialpakt oder die UN-Frauenrechtskonvention (die 1993 – im Zeitpunkt der zweiten Abtreibungsentscheidung des BVerfG – alle schon in Kraft waren) sprechen ein Recht auf Abtreibung auch nur an.  Mehr als fragwürdige Auslegungen von UN-Ausschüssen sind für die Vertragsstaaten rechtlich nicht verbindlich. Denn die im Konsens handelnden Vertragsstaaten bleiben die Herren ihres Vertrages, und nur sie können daher dessen Bedeutung verbindlich bestimmen. Bezüglich der Anerkennung eines Rechts auf Abtreibung ist ein internationaler Konsens nicht erkennbar. Denn selbst heute – Jahrzehnte nach Inkrafttreten der genannten Abkommen – sind Abtreibungen in weltweit 112 Ländern – darunter zahlreiche Vertragsstaaten – nur im Falle einer medizinischen Indikation erlaubt oder sogar gänzlich verboten. Im Übrigen hat die Verfassung Vorrang vor dem Völkerrecht, und die Menschenwürdegarantie, in der auch das Lebensrecht des ungeborenen Menschen wurzelt, ist ein identitätsprägendes, unaufgebbares Axiom des Grundgesetzes mit kategorischem Geltungsanspruch („Unantastbarkeit“).

Nicht schlüssig erscheint schließlich die Haltung der Kommission zur embryopathischen Indikation: Weil diese nach geltendem Recht gleichsam unsichtbar gemacht ist als „ungeschriebener Anwendungsfall“ der sog. medizinischen Indikation (§ 218a Abs. 2 StGB), neigt die Kommission aus Gründen der Rechtsklarheit zu einer eigenständigen Regelung (Indikation). Die auch von der Kommission mit Recht aufgeworfene Frage, „ob ein solchermaßen begründeter Schwangerschaftsabbruch mit dem Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung aus Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG vereinbar ist“, kann nicht unbeantwortet bleiben. Denn eben dieses verfassungsrechtliche Bedenken hatte seinerzeit den Gesetzgeber veranlasst, den vormaligen Indikationstatbestand ersatzlos zu streichen, zumal das Diskriminierungsverbot unmittelbarer Ausfluss der Menschenwürde behinderter Menschen ist (zur Verankerung des Benachteiligungsverbots in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG siehe BVerfGE 160, 79 [1. Es besteht im Übrigen auch in der Sache ein wesentlicher Unterschied, ob ein Fetus allein wegen seiner (mutmaßlichen) Behinderung oder aber deshalb abgetrieben wird, weil die Sorge um dieses Kind für die betroffene Frau aus besonderen individuellen Gründen die Grenzen der Zumutbarkeit überschreiten würde. Letzteres lässt sich als begründete Ausnahme vom Abbruchsverbot akzeptieren, die Verweigerung der Fortexistenz allein wegen eines biologischen „So-Seins“ hingegen nicht .

Unklar bleibt, welches alternative Schutzkonzept denn für den verbliebenen Bereich der „Rechtswidrigkeit“ (jedenfalls in der „Spätphase“ einer Schwangerschaft) zur Anwendung kommen soll: Ein effektives Gesamtregelungskonzept jenseits des Strafrechts fehlt. Der Abschlussbericht beschränkt sich auf den allgemeinen Hinweis, dass dem Gesetzgeber – soweit der Schwangerschaftsabbruch nicht vollständig rechtlich freigegeben werden soll (jedenfalls für die „Frühphase“ der Schwangerschaft) – ein „weiter Gestaltungsspielraum“ zustehe, „in welchen Fällen er mit der Verhängung von Strafe ein sozialethisches Unwerturteil über ein bestimmtes Verhalten des Bürgers ausspricht“. Ersichtlich neigt die Kommission zu einem vollständigen Verzicht auf jedwede Strafandrohung (im Verhältnis von Schwangeren-Fetus), weil – in folgerichtiger Verlängerung der biologistischen Perspektive – „Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG für den ex utero lebensfähigen Fetus mit (etwas) geringerem Schutz zum Tragen komm[e] als für den geborenen Menschen“. Dass die Tat mit „einem Totschlag oder gar Mord eines geborenen Menschen … vergleichbar“ sei, wird gewiss niemand ernsthaft behaupten können, was sich auch in den Strafrahmen der §§ 218 ff. StGB spiegelt. Was aber dann an die Stelle einer Absicherung durch ermahnende Strafandrohung treten soll, wird nicht erkennbar.  Im Ergebnis ist die Zielrichtung klar: Auf das Strafrecht soll zum Schutz der Schwangeren vor Bedrohungen durch Dritte keineswegs verzichtet werden, wohl aber zum Schutze des Nasciturus.

Von der Beratungspflicht in der Frühphase einer Schwangerschaft dürfte, gerade weil § 218a Abs. 1 StGB, §§ 5 ff. SchKG die Letztentscheidung der Schwangeren überlässt und daher der Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Wochen schon heute praktisch freigegeben ist, noch immer eine nicht zu unterschätzende  Präventionswirkung ausgehen. Sie stellt eine Barriere gegen die Normalisierung des Schwangerschaftsabbruchs dar   Auch wenn die Beratungslösung als Kern des geltenden – und vom BVerfG unter Vorbehalt („Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht“) gebilligten – Schutzkonzepts in ihrer praktischen Wirksamkeit mit erheblichen Zweifeln belastet ist, kann sie doch nur aufgegeben werden, wenn an ihrer Stelle ein anderes träte.  Denn auch der demokratisch legitimierte Gesetzgeber unterliegt hier unaufgebbaren verfassungsrechtlichen Bindungen, insbesondere aufgrund der Garantie der Unantastbarkeit der Menschenwürde: „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ (Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG).

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